ZWEIUNDZWANZIG

Ich fahre nicht nach Hause. Obwohl ich schon dorthin unterwegs war, denn eigentlich wollte ich in mein Zimmer stürmen, mich aufs Bett werfen, das Gesicht in einem dicken Stapel Kissen vergraben und mir die Augen ausweinen wie ein jämmerliches Riesenbaby.

Doch kaum bin ich in meine Straße eingebogen, überlege ich es mir anders. Ich meine, diesen Luxus kann ich mir einfach nicht erlauben. So viel Zeit habe ich nicht. Also wende ich stattdessen und mache mich auf in die Innenstadt von Laguna Beach. Langsam fahre ich durch die engen, steilen Straßen, vorbei an gepflegten Bungalows mit herrlichen Gärten und den Protzvillen in Billigbauweise direkt daneben. Ich bin unterwegs zu der einzigen Person, die mir helfen kann.

»Ever.« Sie lächelt und streift sich das wellige rotbraune Haar aus dem Gesicht, während sie mich aus ihren großen braunen Augen ansieht. Und obwohl ich unangemeldet komme, wirkt sie nicht im Mindesten erstaunt. Ihre hellseherischen Fähigkeiten machen es schwer, sie zu überraschen.

»Tut mir leid, dass ich einfach so auftauche, ohne vorher anzurufen, aber ich hab irgendwie ...«

Doch sie lässt mich gar nicht ausreden. Sie macht einfach die Tür auf, winkt mich herein und geleitet mich zum Küchentisch, an dem ich schon einmal gesessen habe - als ich letztes Mal in Schwierigkeiten war und mich niemandem anvertrauen konnte.

Anfangs habe ich sie gehasst, wirklich gehasst. Und als sie angefangen hat, Riley dazu zu überreden weiterzuziehen - die Brücke nach dorthin zu überqueren, wo unsere Eltern und Buttercup warteten -, wurde es noch schlimmer. Obwohl ich sie damals für meine schlimmste Feindin neben Stacia hielt, kommt mir das heute nicht mehr ganz weit weg vor. Und während sie sich in der Küche zu schaffen macht, Kekse herausholt und grünen Tee aufbrüht, sehe ich zu und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht mehr gemeldet habe und nur vorbeikomme, wenn ich nicht mehr weiterweiß.

Wir tauschen die üblichen Höflichkeiten aus, ehe sie sich mir gegenübersetzt und ihre Teetasse in beide Hände nimmt. »Du bist gewachsen!«, sagt sie. »Ich weiß ja, dass ich klein bin, aber jetzt überragst du mich wirklich!«

Ich zucke die Achseln und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, aber langsam sollte ich mich daran gewöhnen. Wenn man innerhalb weniger Tage acht Zentimeter wächst, fällt das natürlich auf. »Anscheinend bin ich eine Spätentwicklerin. Wahrscheinlich ist es ein Wachstumsschub oder so was«, sage ich. Das Lächeln liegt schief auf meinen Lippen, und ich weiß, dass ich mir eine wesentlich einleuchtendere Erklärung zurechtlegen oder wenigstens lernen muss, mit Nachdruck zu antworten.

Sie sieht mich an und nickt. Obwohl sie mir kein Wort abnimmt, lässt sie es einfach so stehen. »Und, wie hält sich der Schutzschild?«

Ich blinzele einmal, zweimal. Ich war so auf mein Anliegen konzentriert, dass ich den Schutzschild völlig vergessen hatte, den sie mir aufzubauen geholfen hat. Den Schutzschild, der letztes Mal, als Damen verschwunden ist, all die Geräusche und den Lärm abgeblockt hat. Den Schutzschild, den ich entfernt habe, sowie er wieder da war.

»Oh, ähm, den habe ich wieder abgelegt«, antworte ich und winde mich dabei innerlich, da ich noch gut weiß, dass es fast einen ganzen Nachmittag gedauert hat, ihn aufzubauen.

Sie lächelt. »Das wundert mich nicht. Normal zu sein ist eben nicht mehr so prickelnd, wenn du etwas kennst, das darüber hinausgeht.«

Nachdenklich breche ich einen Haferkeks entzwei. Wenn es nach mir ginge, würde ich mich sofort für normal entscheiden, verglichen mit dem, was ich jetzt habe.

»Wenn es also nicht um den Schild geht - worum geht es dann?«

»Du meinst, das weißt du nicht? Was bist du denn für eine Hellseherin?« Ich lache, noch dazu viel zu laut für einen so schwachen, schlechten Witz.

Doch Ava zuckt bloß die Achseln und fährt mit ihrem dick beringten Finger um den Rand ihrer Tasse. »Tja, ich bin eben keine fortgeschrittene Gedankenleserin wie du«, sagt sie. »Aber ich spüre, dass etwas Gravierendes im Gange ist.«

»Es geht um Damen«, beginne ich und halte inne, um mir eine Hand auf die Lippen zu pressen. »Er ... Er hat sich verändert. Er ist auf einmal kalt, abweisend, ja sogar grausam geworden, und ich ...« Ich senke den Blick, denn die Wahrheit hinter meinen Worten macht es um so vieles schwerer, sie auszusprechen. »Er reagiert nicht auf meine Anrufe, redet in der Schule nicht mehr mit mir und hat sich in Englisch sogar auf einen anderen Platz gesetzt. Und jetzt - jetzt trifft er sich auch noch mit einem Mädchen, das ... Also, sie ist einfach schrecklich. Ich meine, richtig, richtig schrecklich. Und jetzt ist er auch schrecklich ...«

»Ever«, beginnt sie mit warmer, sanfter Stimme und freundlichen Augen.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, versichere ich ihr. »Es ist ganz anders. Damen und ich haben uns nicht getrennt, wir hatten keine Probleme, es war überhaupt nichts dergleichen. Es ist einfach so, dass an einem Tag alles noch ganz toll war - und am nächsten nicht mehr.«

»Und ist irgendetwas passiert, was diesen Wandel herbeigeführt hat?« Ihre Miene ist nachdenklich, und sie sieht mich unverwandt an.

Ja, Roman ist aufgetaucht. Doch da ich meinen Verdacht nicht belegen kann, dass er (trotz aller dagegensprechender Anzeichen) ein auf Abwege geratener Unsterblicher ist, der irgendeine Art von kollektiver Gehirnwäsche oder Hypnose ausübt oder die gesammelte Schülerschaft der Bay View High mit einer Art Bann belegt hat (wobei ich gar nicht weiß, ob das überhaupt geht), erzähle ich ihr stattdessen von Damens sonderbarem Verhalten in letzter Zeit - die Kopfschmerzen, das Schwitzen und ein paar andere nicht-geheime Sachen, über die man ohne Weiteres reden kann.

Dann sitze ich da und halte die Luft an, während sie an ihrem Tee nippt und durchs Fenster in den herrlichen Garten hinausschaut. Schließlich wendet sie mir den Blick wieder zu und sagt: »Erzähl mir alles, was du über Sommerland weißt.«

Ich starre auf die zwei Hälften meines ungegessenen Haferkekses hinab und presse die Lippen zusammen, da ich noch nie jemanden dieses Wort so offen und beiläufig habe aussprechen hören. Ich hatte Sommerland stets für Damens und meinen heiligen Ort gehalten und hätte nie gedacht, dass einfache Sterbliche auch davon wissen könnten.

»Du bist doch sicher dort gewesen?« Sie stellt ihre Tasse ab und runzelt die Stirn. »Während deiner Nahtoderfahrung vielleicht?«

Ich nicke und erinnere mich an meine beiden Besuche, den ersten, als ich tot war, und den zweiten mit Damen. Ich war so hingerissen von dieser magischen, mystischen Dimension mit ihren weiten duftenden Feldern und den vibrierenden Bäumen, dass ich gar nicht mehr wegwollte.

»Hast du auch die Tempel besucht, als du dort warst?«

Tempel? Ich habe keine Tempel gesehen. Elefanten, Strände, Pferde - Dinge, die wir beide manifestiert haben, aber gewiss keine Häuser oder irgendwelche andere Gebäude.

»Sommerland ist legendär für seine Tempel oder die Großen Hallen des Wissens, wie man sie nennt. Ich glaube, dort findest du eine Antwort.«

»Aber ... Aber ich weiß nicht einmal genau, wie ich ohne Damen dort hinkomme. Ich meine, ohne zu sterben und so.« Ich sehe sie an. »Woher weißt du überhaupt davon? Bist du dort gewesen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich versuche seit Jahren, einen Zugang zu finden. Und obwohl ich ihm ein paar mal nahe gekommen bin, habe ich es nie durch das Portal geschafft. Aber wenn wir unsere Energien verschmelzen, sozusagen unsere Ressourcen bündeln, könnten wir durchkommen.«

»Das ist unmöglich«, sage ich und muss an das letzte Mal denken, als ich versucht habe, auf diese Weise hinzukommen. Selbst wenn Damen damals bereits Anzeichen von Schwäche aufwies, so ist er doch immer noch viel weiter fortgeschritten als Ava an ihrem allerbesten Tag. »Es ist nicht so einfach. Selbst wenn wir unsere Energien bündeln, bleibt es immer noch wesentlich schwieriger als du denkst.«

Doch sie schüttelt nur den Kopf und lächelt, ehe sie aufsteht und sagt: »Aber das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben, oder?«

 

Der blaue Mond
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